Selten war diese Frage so schwer zu beantworten. Viele der großen Fußballnationen befinden sich in einem Umbruch. Aufgrund des eng getakteten Kalenders, in der es in den meisten Ligen kaum Pausen gab, sind viele Spieler übermüdet. Gerade die Top-Klubs mussten dem Tribut zahlen. So gewannen mit Lille, Inter Mailand, Atlético Madrid, den Glasgow Rangers und Sporting Lissabon Klubs die Meisterschaft, die nicht die Topfavoriten waren. Sie zählen zwar alle zu den besten in ihrem Land, sind aber qualitativ nicht ganz auf der Höhe wie die üblichen Titelanwärter.
In dieser Analyse werden wir 9 Teams vorstellen, die unserer Meinung nach eine realistische Chance auf den Europameistertitel haben. Gerne hätten wir diese Auswahl verkleinert, aber aufgrund der oben genannten Faktoren, ist es schwierig diese Titelanwärterliste zu reduzieren. Zudem kommt der Modus mit 24 Mannschaften hinzu, bei denen teilweise die Gruppendritter auch noch weiterkommen. Dies war auch der Fall beim Europameister von 2016, Portugal, die sich als Gruppendritter und mit nur einem Sieg in der regulären Spielzeit (2:0 gegen Wales) den Titel sichern konnten.
England:
Wäre es nicht aufgrund der individuellen Qualität, würden die Engländer in dieser Liste gar nicht auftauchen. Mittelstürmer Kane gehört zu den besten der Welt, die Flügelzange mit Sancho und Sterling ist ebenfalls schwer zu überbieten, mit Verteidigern wie Walker und Stones ist die Dreierkette ebenfalls namhaft besetzt, auch wenn noch nicht ganz klar ist, ob Southgate mit Dreierkette spielen wird. Zuletzt spielte er oft mit Viererkette. Die finale Formation wird wohl auch davon abhängen, ob Harry Maguire rechtzeitig zur EM fit wird. Schwäche ist ganz klar das Mittelfeld, das zumindest bisher keine Spieler vom internationalen Topformat hervorgebracht hat. Laut Transfermarkt besitzt England mit Abstand den höchsten Kaderwert, jedoch spielen fast alle Profis in der Premier League, die immer schon Ort von überteuerten Preisen war. Southgate hat es nicht geschafft, der Mannschaft eine wirkliche Identität zu geben, abgesehen von ihrer Gefahr bei Standardsituationen, wobei auch die stark von Maguire abhängt. Der Mannschaft fehlt es zudem an klaren Führungspersönlichkeiten. Für den Titel müsste bei England also einiges zusammenkommen.
Wahrscheinlichkeit, Europameister zu werden: 10%
Kroatien:
Als stärkstes osteuropäisches Team befinden sich die Kroaten ebenfalls auf dieser Liste. Eine erfahrene und physisch starke Mannschaft, die einen unangenehmen Gegner abgibt, was ihnen vor allem in den Finalspielen zugutekommen kann. Genau diese Qualitäten könnten sie weit bringen, ähnlich wie bei der WM 2018. Kroatien hat zwar spielerisch starke Spieler wie Modric, Kovacic und Rakitic in den Reihen, ist aber keine Mannschaft, die einen Gegner dominieren kann. Das Team lebt von seiner Zweikampfstärke und Leidenschaft.
Wahrscheinlichkeit, Europameister zu werden: 5%
Niederlande:
Die Niederländer sind wieder zurück auf der Fußballbühne. Der Umbruch nach der Ära Robben, Sneijder und van Persie scheint langsam Früchte zu tragen. Spieler wie de Ligt, de Jong und Depay haben sich bei ihren Vereinen etabliert, auch wenn sie noch nicht zu der absoluten Weltspitze zu zählen sind. Der Ausfall von van Dijk schmerzt sicherlich schwer und ist in der Form auch nicht zu ersetzen. Im Gegensatz zu einigen anderen Nationen bringt die Niederlande eine klare Identität mit, die von Trainer und ex-Ajax Legende Frank de Boer vermittelt wird. Da Oranje nicht zu den absoluten Topfavoriten zählt, können sie relativ frei aufspielen, was die spielstarken Niederländer besonders gefährlich machen könnte.
Wahrscheinlichkeit, Europameister zu werden: 6%
Italien:
In einer ähnlichen Situation wie die Niederlande befindet sich Italien. Auch die Squadra Azzura verpasste das letzte Turnier und ist in einem Umbruch. Zwar sind die Innenverteidiger Bonucci und Chiellini noch immer dabei, aber junge Talente wie Bastoni rücken nach. Insgesamt ist aber vor allem die Verteidigung sehr erfahren, Acerbi, Toloi und Florenzi sind alle mindestens 30 Jahre alt. Herzstück der Mannschaft ist das Mittelfeld um Jorginho, Verratti und Barella. Auch auf der Außenstürmerposition ist Italien mit Insigne, Chiesa, Berardi und Bernadeschi gut besetzt. Mit den Mittelstürmern Immobile, Kean und Belotti verfügt Trainer Mancini über unterschiedliche Spielertypen, was in einem Turnier immer hilfreich sein kann. Mancini hat den Italienern auch eine neue und klare Handschrift gegeben. Die ansehnliche Spielweise verkörpert auch den neuen Stil der Serie A: offensiv und taktisch diszipliniert. Mit den Italienern ist wieder zu rechnen, in einem Spiel können sie jede Mannschaft schlagen, haben aber wie die Niederlande nicht den großen Druck.
Wahrscheinlichkeit, Europameister zu werden: 10%
Spanien:
Die Mannschaft, die zwischen 2008 und 2012 den Fußball dominierte, wusste bei den letzten Turnieren nicht zu überzeugen. Zu vorhersehbar war der Fußball, der sie erfolgreich gemacht hatte. Eine leicht veränderte Identität von Trainer Luis Enrique könnte sie zurück in die Erfolgsspur bringen. Das jahrelange Problem der fehlenden Außenstürmer könnte mit den Nominierungen von Ferran Torres und Adama Traoré behoben sein. Auch Außenverteidiger Angelino könnte durch seine Tiefenläufe und Flanken neue Überraschungsmomente in die Mannschaft bringen. Das Mittelfeld um Busquets oder Rodri, Thiago und Fabian Ruiz ist weiterhin spielstark, defensiv sind erfahrene Spieler wie Alba, Azpilicueta, oder Torwart de Gea dabei. Die Nichtnominierung von Ramos, dem wahrscheinlich besten Innenverteidigers des vergangenen Jahrzehnts bleibt sehr fragwürdig und hat die Chancen auf den Titel nicht gerade erhöht. Dennoch bleiben die Spanier aufgrund ihrer individuellen Qualität ein aussichtsreicher Titelkandidat.
Wahrscheinlichkeit, Europameister zu werden: 13%
Deutschland:
Neben Spanien war die deutsche Nationalmannschaft über viele Jahre das konstanteste Team, auch wenn sie nur bei der WM 2014 einen Titel gewann. Der gewollte Umbruch, der unnötig früh mit der Nichtbeachtung von Müller, Hummels und Boateng vollzogen wurde, wurde teilweise wieder revidiert. So wurden völlig zurecht Müller und Hummels zurück in die Nationalmannschaft geholt. Das Mittelfeld ist mit Kroos, Gündogan, Kimmich, Goretzka und Neuhaus geradezu überbesetzt. Allerdings ist die Besetzung des Mittelfeldes fraglich. Toni Kroos war jahrelang der Chef im deutschen Mittelfeld, passt mit seiner langsamen, auf Ballbesitz ausgelegten Spielweise aber nicht mehr zum Rest des Mittelfeldes, das sehr gut im Gegenpressing ist und mit viel mehr Risiko nach vorne spielt. Es bleibt allerdings fraglich wie Deutschland spielen möchte, zuletzt hatten sie sich teilweise zwischen Ballbesitzfußball und Konterfußball verloren. Die offensiven Außenbahnen mit Sané und Gnabry sind ebenfalls absolute Weltklasse. Die Achillesverse der deutschen bleibt die Mittelstürmerposition (Optionen sind hier Werner und Volland) und die Außenverteidigerposition, auf die Kimmich eigentlich fast gezwungen wird, um die Qualität hochzuhalten. Fraglich bleibt die Trainerrolle. Nach schwachen Ergebnissen wird Löw nach der EM aufhören. Ob die Mannschaft ihm das volle Vertrauen schenkt, bleibt abzuwarten.
Wahrscheinlichkeit, Europameister zu werden: 13%
Belgien:
Bei der WM 2018 schienen die Belgier genau auf ihrem Zenit zu sein und waren vielleicht die überzeugendste Mannschaft im Turnier, obwohl sie dieses nicht gewannen. Seitdem hat sich einiges getan. Leistungsträger wie Alderweireld und Vertonghen hatten schwierige Saisons bei Tottenham bzw. spielen nicht mehr wöchentlich auf höchstem Niveau bei Benfica. Vor allem der wahrscheinlich beste Spieler der WM 2018 – Eden Hazard – ist absolut unfit und hatte zwei schwache Saisons bei Real Madrid. Auf der anderen Seite hat sich Lukaku bei Inter in die Weltklasse gespielt. Vergab er im WM-Halbfinale gegen Frankreich noch aussichtsreiche Chancen, ist er jetzt (auch dank Antonio Conte) ein wesentlich kompletterer Stürmer geworden. Nicht vergessen darf man auch die Konstanz in Person, Kevin de Bruyne, dessen überragende Leistungen schon zur Normalität geworden sind. Belgien ist sicherlich nicht auf jeder Position überragend besetzt, hat aber einen Trainer der dies perfekt zu kompensieren weiß. Mit Roberto Martinez haben die Belgien den vielleicht taktisch stärksten Trainer der Topteams, was ihnen in den K.o.-Spielen den entscheidenden Vorteil bringen könnte.
Wahrscheinlichkeit, Europameister zu werden: 13%
Portugal:
Die beiden letzten Turniere, die EM 2016 und die Nations League wurden beide von Portugal gewonnen, auch wenn letztere nicht den größten Stellenwert genießt. War der Triumph bei der letzten EM doch eher schmeichelhaft, hat sich seitdem einiges getan. Innenverteidiger Rúben Dias wurde jüngst zum besten Spieler der Premier League ausgezeichnet, sein Teamkollege Cancelo hat ebenfalls eine tolle Saison hinter sich. Im zentralen Mittelfeld bieten sich mit Willem Carvalho, Pereira, Renato Sanches, Neves, und Moutinho verschiedenste Lösungen an, je nachdem ob eher ein physisch oder technisch starker Ansatz gewählt wird. Das Prunkstück ist sicherlich die Offensive mit Bruno Fernandes als 10er, Bernardo Silva, Joao Felix und Superstar Cristiano Ronaldo. Fraglich bleibt wie Trainer Santos diese Qualität in ein System pressen kann und wie diese Spieler untereinander harmonieren. Beim ganzen individuellen Talent, das Portugal hat, sollte man aber nicht vergessen, dass es zugleich sehr viele verschiedene Spielertypen sind, die nicht ganz zusammenpassen. Darin liegt mit Sicherheit ihr größtes Problem. Ronaldo spielt – ähnlich wie Messi – jedoch zu dominant und nimmt seinen Mitspieler teilweise gute Räume weg, das Spiel wird mit ihm deutlich statischer als ohne ihn. Trotzdem ist er natürlich gesetzt und kann ein Spiel alleine entscheiden. Die heutige Mannschaft ist sicherlich stärker einzuschätzen als bei ihrer letzten Teilnahme. Diesmal sind alle Augen aber auf die Portugiesen gerichtet: nicht weil sie Titelverteidiger sind, sondern aufgrund ihrer vielversprechenden Generation. Größte Hürde könnte die Gruppenphase mit Frankreich, Deutschland und Ungarn sein. Meistern sie diese, ist eine Titelverteidigung möglich.
Wahrscheinlichkeit, Europameister zu werden: 13%
Frankreich:
Die beste Mannschaft der letzten Jahre war sicherlich die Equipe Tricolore: Finalist 2016 und Sieger 2018. Die Nominierung von Benzema schlug ein wie eine Bombe und machte die Franzosen für viele nun definitiv zum Topfavoriten. Deschamps hat eine physisch starke Mannschaft geformt, die schwer zu schlagen ist, in der Vergangenheit aber selbst auch immer wieder Probleme hatte, das Spiel zu machen und kleinere Teams zu schlagen. Die starken Gruppengegner Deutschland und Portugal könnten ihnen entgegenkommen und es wäre nicht verwunderlich wenn sich die Franzosen gegen die Ungarn schwerer tun würden. Dieses Problem könnte mit der Nominierung Benzemas aber behoben sein: Benzema und Griezmann könnten ein nichtzuverteidigendes Traumduo bilden, Dembélé, Mbappé oder Coman für Tempo über die Außen sorgen. Ob und inwiefern all diese Spieler sich in der Startelf befinden, weiß nur Deschamps. Interessant wird auch sein wie gut Mbappé mit Benzema harmonieren und ob Mbappé akzeptiert, nicht mehr alleiniger Superstar der Mannschaft zu sein. Mit diesen beiden hat Frankreich aber wohl zwei der drei besten Spieler des Turniers in seinen Reihen. Im Mittelfeld waren Pogba und Kanté wichtige Stützen beim Triumph 2018, bei einem möglichen Dreimannmittelfeld konnten die weiteren Mittelfeldspieler Rabiot, Tolisso, Sissoko und Lemar allesamt nicht überzeugen. Ein Innenverteidigungduo Umtiti – Upamecano würden technisch und physisch seinesgleichen suchen, jedoch wurde keiner der beiden nominiert. Dennoch ist mit Varane und Kimpembe eine stabile Achse vorhanden. Mit Pavard und Hernandéz spielen zudem zwei weitere gelernte Innenverteidiger auf den Außenverteidigerpositionen, die schon 2018 dabei waren. So sehr man die Personalentscheidungen von Deschamps kritisieren mag, der Weg zum Titel führt nur über Frankreich.
Wahrscheinlichkeit, Europameister zu werden: 17%